Nachdenken über Bildung

Ein bildungsphilosophischer Austausch

Wem brennen die Themen „Wissen, Bildung und Erziehung“ nicht unter den Nägeln? Wer fragt sich nicht, beklommen oder vorfreudig, wohin die Reise einer voranschreitenden Digitalisierung führt? Wer kennt nicht das Unbehagen bei der Verwendung von Begriffen, die zunehmend diffuser erscheinen? Wer könnte heute die Aufgaben von Schule für morgen definieren? Wie bestimmen, was ein gutes Erwachsenenleben ausmacht? Was unseren Kindern mit auf den Lebensweg geben?

Bereits in der 2009 erschienenen Schulchronik „Bildungswege – 50 Jahre Private Kant-Schule Berlin – Ein Verein macht Schule“ konnte man die dramatische Entwicklungsgeschichte der Kant-Schulen auf dem Hintergrund der gesellschafts- und schulpolitischen Linien nachvollziehen.

Zum 60. Geburtstag der Kant-Schulen wagte sich die Autorin, Dr. Marlene Müller-Rytlewski, an die Fortschreibung der Geschichte. Neben der Reflexion über die Weiterentwicklung der Schulen wollte sie herausfinden, welche Entwicklungslinien für künftige schulische Bildungsarbeit zu erkennen sind. Nicht nur die Autorin meinte, es sei an der Zeit für eine Bildungsdebatte! Ziel war eine Konferenz 2019/20 zum Thema Innovation und Kant.

Brauchen wir in beschleunigt digitalisierten Zeiten, in denen nahezu alles verfügbare Wissen mit zwei Klicks abrufbar ist, noch eine Schule, um junge Menschen gebildet auf das Erwachsenenleben vorzubereiten? Welche Rolle sollten die Gedanken der Aufklärung spielen? Sind die bisherigen Ansätze von erweiterten Kompetenz-, Medien- und Förderkonzepten zukunftsweisend? Wie wird Schule wieder ein freier Ort der Bildungsvermittlung und -erkundung?

Diesen Fragen gingen wir in einer Reihe von Kamingesprächen offen reflektierend nach. Auf Einladung trafen sich Schulleiter:innen, Schulrät:innen, Eltern, Lehrkräfte, Interessierte, Expert:innen in kleinem Kreis.

Kamingespräche

Nachdenken über Bildung

Impulsgeber: Dr. Ole Döring

Bildung steht in einem Spannungsfeld aus Politik und Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur. Ihr Auftrag erscheint widersprüchlich: sie soll die Kultivierung individueller Persönlichkeiten als Selbstzwecke befördern und zugleich spezialisierte Fachkräfte für den Arbeitsmarkt qualifizieren. Hinzu kommt die Erwartung, Staatsbürger:innen für die Pflege der demokratischen Grundlagen unserer Gesellschaft und die Herausforderungen der globalisierten Moderne auszustatten. Dabei den Überblick zu behalten, kompetent, vernünftig und gerecht zu navigieren: dies verspricht die praktische Philosophie Kants. Der Kurzvortrag wird anhand konkreter Beispiele (Verantwortung, Klugheit, Erfolg) die Grundgedanken von Bildung als Kunst des Navigierens vorstellen und dabei korrespondierende Motive der konfuzianischen Philosophie ins Spiel bringen.

Dr. Marlene Müller-Rytlewski fasst zusammen:

Prof. Döring versprach uns Kant und Konfuzius. Nach dem Hinweis auf die rasante Technologieentwicklung, zumal in asiatischen Ländern, und unserem Ausgeliefertsein dem gegenüber stellte er die Frage: “Kann ein Rechner dadurch, dass er hochkomplexe Zusammenhänge erschließt und miteinander verknüpft, das leisten, was der Mensch als Wesen mit Gehirn kann?” Und weiter: “Kann uns Resilienz im Sinne des humanistischen Bildungsideals Spielräume eröffnen, mit Herausforderungen der Gegenwart umzugehen? Wie können wir aus der Aufklärung, wie aus der konfuzianischen Philosophie lernen, kompetent, vernünftig und gerecht zu handeln?”

Nach Impuls-Referat und Debatte vertieften sich die Teilnehmer:innen in Kleingruppen in Fragestellungen und einzelne Aspekte, die dann noch einmal in der Runde präsentiert und sehr lebhaft diskutiert wurden – Start in ein bestimmtes Prozedere der Kamingespräche in der Kant-Akademie.

Impulsgeber: Benno Linne

Der Oberschulrat in Ruhestand, Lehrer für Physik und Mathematik, erfahren im deutschen Auslandsschulwesen in Mexiko, zuletzt bei der Senatsverwaltung für Bildung in Berlin, dort zuständig für den Aufbau und den Betrieb des Beschwerdemanagements, wird in seinem Eingangsreferat zu den Begriffen Bildung und Schule Stellung nehmen.

Was hat Schule (noch) mit Bildung zu tun?
Ist das Menschenbild vom mündigen, informierten, kritischen Bürger Ausgangspunkt schulischer Bildungsarbeit? Ist ein Kanon noch zeitgemäß oder zukunftsträchtig? Welche Organisation einer Schule würde der Bildung einen höheren Stellenwert ermöglichen?

Dr. Marlene Müller-Rytlewski fasst zusammen:

Nicht mit Philosophie, sondern mit sehr alltagspraktischen Fragen konfrontierte bei der zweiten Zusammenkunft Herr Linne, aus der Schulpraxis kommend, die Gäste: “Was hat Schule (noch) mit Bildung zu tun?” “Welche Bedingungen wären dem (Kant’schen) Ziel, kritische, mündige Bürger zu erziehen, förderlich?” Dient die Schule zur Befähigung moralischen Urteilens (Kohlberg/Rawls) oder ist Schule nach der steilen Behauptung des amerikanischen Ökonomen Bryan Caplan Geld- und Zeitverschwendung?”

Impulsgeber: Prof. Dr. Odej Kao

Dieser Frage wendet sich der Leiter des Einstein Center Digital Future, ein „interuniversity nucleus for research“ mit über 50 Juniorprofessor:innen, Vater von zwei Kindern, die unsere Schule besuchen, in einem Impulsreferat zu..

Den Vortrag von Professor Kao lesen Sie hier

Dr. Marlene Müller-Rytlewski fasst zusammen:

Professor Kao, führte der Diskussionsrunde im dritten Kamingespräch vor Augen, dass wir Formen der Digitalisierung, die beispielsweise darin bestehen, Routinearbeiten nicht mehr aufwändig selber erledigen zu müssen, auch in der Bildung werden sinnvoll nutzen können, wenn wir deren Vorgehensweisen verstehen lernen und wenn wir es sind, die der „Maschine“ Entscheidungen vorgeben und sie kontrollieren.

Erneut fiel Kants Begriff der Verantwortung. In der Diskussion wurde dafür plädiert, flexible Räume für verschiedene  Lernanlässe zu offerieren. Wünschenswert die Zeit und die Bereitschaft der Lernenden und Lehrenden, einander zuzuhören. Das Gespräch zwischen den Generationen soll intensiviert werden, indem auch Schüler:innen in die Kamingespräche eingebunden werden. Es gilt zu lernen, mit den starken Emotionen, die das Thema Digitalisierung auslöst, umzugehen.

Impulsgeberin: Antje Minhoff

In der vierten Runde wollen wir uns den Menschen nähern, die bislang als Lehrer oder Lehrerin den schulischen Bildungs- und Erziehungsauftrag verantwortet haben.
Sprechen wir künftig von einem Lernbegleiter, einem Coach, Moderator, oder welches Rollenbild können wir uns vorstellen in einer digitalisierten Umgebung.

Antje Minhoff begleitet(e) nicht nur drei Kinder mit ihrem Mann durch diverse Schulformen, sondern engagiert sich vielfältig für Bildungsinitiativen wie „Du bist smart“, für Hochbegabte und andere Minderheiten.

Als Verkäuferin von Medien und Geschäftsführerin der MINHOFF GmbH hat sie viele Schulen mit Smart Boards und anderen Medien ausgestattet und dabei gelernt, welche Ansätze Lehrende bewegen können, neben Schulbüchern auch andere Medien gewinnbringend einzusetzen.

Dr. Marlene Müller-Rytlewski fasst zusammen:

Beim 4. Gespräch zwischen Leiter:innen, Lehrkräften, Eltern und Interessierten ging es wiederum um das Thema Digitalisierung. Frau Minhoff mit einem starken Plädoyer für intensivierte Nutzung der digitalen Medien in den Schulen rückte Fragen nach der Rolle, dem Selbstverständnis, sowie den Möglichkeiten und auch Grenzen der klassischen Lehrkraft und seiner/ihrer Wissensvermittlung ins Zentrum und provozierte mit der Formulierung vom „digitalisierten Lehrkörper“ eine lebhafte Debatte. Es öffneten sich Fenster in eine Zukunft, auf deren Gestaltung wohl nur wenige wirklich vorbereitet sind.

Die Eltern-Perspektive lässt sich nicht in einem Impuls zusammenfassen. Die eigenen Erfahrungen, die Lebenssituation, das familiäre Umfeld – all dies spielt eine große Rolle.
Was wollen eigentlich Eltern von der Schule, was lernen sie über den Rhythmus einer Schule, was verstehen sie unter Partnerschaft mit der Schule und wie teilen sie die (gemeinsame) Verantwortung mit dem Schulpersonal? Welche Werte sind Eltern wichtig, wenn sie eine Schule (aus-)suchen? Welche Krisen muss man bewältigen, um Vertrauen entwickeln zu können? Und was machen sie mit den anderen Eltern, die vielleicht ganz andere Werte vertreten?
Wie gehe ich mit meiner Hilflosigkeit um, wenn ich den Zugang zu meinem Kind zu verlieren drohe, oder ich die Lehrerin meines Kindes mit meinem Anliegen nicht erreiche? Wo finde ich Ermutigung und Aufmerksamkeit?

Fragen über Fragen, die wir aus der Perspektive verschiedener Eltern erörtern möchten.

Dr. Marlene Müller-Rytlewski fasst zusammen:

Das 5. Kamingespräch war ehemaligen Eltern vorbehalten. Diesmal wurde nicht mit einem Impuls-Referat eröffnet, sondern mit den Sichten der Eltern auf ein Set an vorgegebenen oder eigenen Fragen. Stichworte waren Werte, Verantwortung, Partnerschaft, Vertrauen, ferner Krisen, Hilflosigkeit und Ermutigung. Die Erfahrungen der Eltern an den Kant-Schulen fielen samt und sonders eher positiv aus, ihre Wünsche hingegen differierten immens: Manchen schien weniger mehr zu sein, andere dehnten die Aufgabe von Schule weit über Wissensvermittlung hinaus und betonten dabei den Aspekt der Wertevermittlung. Die Eltern zeigten sich weder hilf- noch ratlos und dennoch auch angewiesen auf Ratschlag dort, wo es um Antworten auf diffuse Anforderungen der Zukunft an die Kinder geht.

Schwerpunkt dieses Kamingesprächs sollten Erfahrungen und Erkenntnisse ehemaliger Schüler:innen sein, die bei Kant gelernt haben und nun auf ihre Schulzeit zurückblicken.

War die Schule eine gute Ergänzung zu dem, was Eltern einem mit auf den Lebensweg mitgegeben haben,  oder eine eigene Welt, die mit dem Familienleben nicht viel zu tun hatte?

War/ist die Schule ein Ort, um

  • Wissen und Handwerke wie Lesen, Schreiben, Rechnen, Analysieren, Debattieren zu erwerben bzw. zu erlernen,
  • Freundschaften zu finden und zu entwickeln,
  • einen guten Schulabschluss zu erlangen
  • durch unterschiedliche Lehrkräfte in verschiedenen Unterrichtssettings Zugang zu bislang unbekannten Welten zu erhalten.

Was schätzten sie besonders im Schulalltag? Was gar nicht? Was würden sie ändern, hätten sie die Möglichkeit dazu?

Dr. Marlene Müller-Rytlewski berichtet:

Im 6. Kamingespräch schließlich kamen Erfahrungen und Anregungen ehemaliger Schüler:innen zur Sprache.

Sarah-Michelle Hammer repräsentierte eine Gruppe von sechs Mitschüler:innen. Deren Sicht auf Schulerfahrungen brachte die Diskussionsteilnehmer:innen dazu, sehr grundsätzlich über die Beziehungen zwischen Schüler:innen und Lehrer:innen und Veränderungsmöglichkeiten nachzudenken. Schule wurde von dieser Ehemaligengruppe als ein Ort wahrgenommen und geschätzt um Freundschaften zu schließen, Handwerkliches und abstrakte Fähigkeiten zu entwickeln und Neugierde auf fremde Kulturen zu erlernen. Vorschläge, gar Forderungen zielten auf mehr Internationalismus, verbunden mit dem Wunsch nach einem breiteren Fremdsprachenangebot. Zudem sollten Wissenskomplexe fächerübergreifend und damit  zusammenhängender und intensiver erlernt werden können. Angemerkt wurde, dass im ungünstigen Fall zwischen Schüler:innenumfeld und Schule kaum Verbindungen bestehen, Schüler:innen also in Parallelwelten leben können oder müssen.

Nachdenken über Bildung

Eine Zwischenbilanz

Sechs Kamingespräche hatten stattgefunden; nun war es an der Zeit, eine erste Zwischenbilanz zu ziehen, ob das Format, die Themenauswahl, die personelle Zusammensetzung der Gesprächsrunden sich bewährt hatten, vor allem aber zu inhaltlichen Fragen, zu deren Vertiefung, Erweiterung und Ergänzung.

Dazu lud Herr Wegener namens des Hausherrn, Prof. Dr. Odej Kao, am 31. August 2018 ins Einstein Center Digital Future, wo uns, knapp 20 Freund:innen des Nachdenkens über Bildung, die Geschäftsführerin des Hauses begrüßte und die Geschichte des Centers und der Räumlichkeiten kurz umriss.

30 Minuten dauerte die Präsentation einer Zusammenfassung der sechs vorausgegangenen Runden, konzentriert auf wichtige Ergebnisse sowie auf Fragen, mit denen wir uns im Weiteren befassen wollen. Der Bericht wurde kurz und zustimmend diskutiert.

Im zweiten Teil bildeten sich vier Arbeitsgruppen um verschiedene Themen herum:

  • Die Rolle des Lehrenden. Hier besteht nicht nur ein großes Spektrum an Vorstellungen darüber, was eine Lehrkraft zu leisten imstande sein sollte. Fragen nach dessen Aus- und Fortbildung, nach den historisch wechselnden Anforderungen an Lehrende, auf Lehr- und Lernmethoden (Lernen in Zusammenhängen, aber auch konventionelles versus digitales Lehren und Lernen) und darauf, wie im Kant’schen Sinne die Vorbildfunktion gewährleistet werden kann, kamen zur Sprache. Bei allem Wünschbaren: Der Hinweis, dass von Lehrkräften nur ein kleiner Teil exzellente Pädagog:innen, die anderen aber gute Handwerker:innen sind, brachte uns immer wieder zurück auf den Spagat zwischen dem Wünschbaren und dem Machbaren, in dem alle Diskussionen sich bislang bewegt hatten.
  • Ein weiterer Punkt war die Rolle der Bildungspolitik und damit zusammenhängend die Frage, ob alle Freiräume für Privatschulen hinsichtlich Organisation, Inhalten, auch Lehrer:innenausbildung und mehr wirklich schon ausgelotet sind?
  • Lernumgebung, Lernpartnerschaften, interkulturelles Lernen, Differenzen im Lernverhalten – die Zeit reichte kaum, um anzusprechen, was den Teilnehmer:innen unter den Nägeln brennt.
  • Vorschläge wurden gemacht zu weiteren Referent:innen und Gesprächspartner:innen, zum Beispiel  Kinderärzt:innen und Wissenschaftler:innen, die Aufklärung geben können zur Frage der Kinderentwicklung und die Einflüsse digitaler Medien darauf.

Viele der Fragen sind ohne Einbindung von Eltern nicht zufriedenstellend zu bearbeiten. Vorgeschlagen wurde, die Kant-Akademie hier eine Rolle übernehmen zu lassen und ein Podium zur Fortbildung für Eltern wie Lehrkräfte anzubieten.